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RfM-Debatte 2020

Drei Sprachen sind genug fürs Abitur!

Ein Reformvorschlag für den Abbau der Diskriminierung von mehrsprachig Aufgewachsenen bei Schulabschlüssen

Initialbeitrag von Dr. Dita Vogel, Mitglied im Rat für Migration e.V.,  25.06.2020

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Beitrag von Dr. Dita Vogel im Deutschlandfunk

Wenn es um den Nachweis von Sprachenkenntnissen für Schulabschlüsse geht, kommt es in Deutschland derzeit nicht auf die tatsächlichen Sprachenkenntnisse an, sondern auf den Besuch des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland. Dadurch werden Kinder diskriminiert, die außerhalb der Schule Kompetenzen erworben haben – vor allem Kinder, die in ihrer Familie auch eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Um die Diskriminierung dieser mehrsprachig Aufgewachsenen abzuschaffen, wird hier ein weitreichender Rechtsanspruch auf Prüfung von Sprachenkenntnissen und ein darauf vorbereitender Unterricht vorgeschlagen.

Die Idee für diesen Vorschlag ist in der Arbeit des Projekts „Transnationale Mobilität in Schulen“ (TraMiS)[1] entstanden. In diesem Forschungs- und Entwicklungsprojekt wurden zahlreiche Gespräche mit Schulleitungsmitgliedern, Lehrpersonen, Eltern sowie Schülerinnen und Schülern geführt. Dabei wurde deutlich, dass ein grundlegendes Problem im System der Sprachenanforderungen bei Schulabschlüssen besteht.

Anforderungen an Sprachen bei Schulabschlüssen

Die Anforderungen an Sprachen bei Schulabschlüssen in Deutschland lassen sich vereinfacht so skizzieren: Um den ersten Schulabschluss nach der 10. Klasse zu erlangen, muss eine Fremdsprache – in der Regel Englisch – gelernt werden. Wer Abitur machen will, braucht auch eine zweite Fremdsprache. Die deutschen Abituranforderungen entsprechen von der Grundidee der Sprachenpolitik der Europäischen Union, nach der alle EU-Bürger*innen zusätzlich zur Erstsprache zwei weitere Sprachen bis zu einem gewissen Grad beherrschen sollten (Erstsprache +2).[2]

Wertschätzung von Mehrsprachigkeit

Dass Kenntnisse in drei Sprachen erwartet werden, lässt sich als eine Wertschätzung von Mehrsprachigkeit auffassen. Diese erstreckt sich aber nur auf die wenigen Sprachen, die in der Schule als Fremdsprache angeboten werden. Dabei handelt es sich nur selten um Sprachen, die von Zugewanderten und ihren Nachkommen gesprochen werden. Die „Wertschätzung und Anerkennung der herkunftsbedingten Mehrsprachigkeit“, wie sie in den Empfehlungen zur interkulturellen Bildung der Kultusministerkonferenz gefordert wird[3], geht dagegen oft nicht über symbolische Orientierungen wie z. B. durch mehrsprachige Grußformeln im Eingangsbereich von Schulen hinaus.

Herkunftssprache als Schulfach

Der Begriff Herkunftssprache wird für Sprachen eingewanderter Minderheiten verwendet.[4] Im schulischen Kontext geht es dabei um Sprachen, die in der Familie gelernt wurden, und die nicht als Fremdsprachen angeboten werden. Sie haben den Status eines netten Extras – sie können bestenfalls zusätzlich in einem freiwilligen Unterricht gepflegt werden, der nicht für den Schulabschluss zählt.[5] Der Unterricht wird oft von schlechter bezahlten Lehrpersonen am Nachmittag erteilt, die z.T. keine pädagogische Ausbildung haben[6]. Es ist daher nicht überraschend, dass das Interesse von Jugendlichen und Eltern gering ist. In einer Streitschrift für den Ausbau des türkischen Herkunftssprachenunterrichts zum Fremdsprachenunterricht wird die Problematik unmissverständlich angesprochen:

Überspitzt formuliert muss gerade aus Elternperspektive die Frage erlaubt sein: Warum die Kinder in einen Herkunftssprachenunterricht schicken, wo sie sich langweilen und wertvolle Zeit vergeuden, in der sie entweder für andere Fächer lernen oder etwas „Sinnvolleres“ wie Sport machen könnten, wenn sie dort nicht einmal ein anerkanntes Zertifikat erwerben können und zu allem Überfluss in den Augen ihrer Mitschüler und Lehrkräfte auch noch zu „Türken“ werden, obgleich sie sich doch oft als Deutsche fühlen?[7]

Für mehrsprachig aufgewachsene Kinder – also Kinder, die z.B. im familiären und freundschaftlichen Umfeld regelmäßig mehr als eine Sprache verwenden[8] – halten die meisten Schulen in Deutschland kein passendes Angebot bereit. Das möchte ich an drei Beispielen zeigen, die auf reale Fälle zurückgehen.

Beispiel 1: Eine mehrsprachig in Deutschland aufgewachsene Jugendliche

Stellen wir uns die 14jährige Tochter eines Ehepaars vor, bei dem der Vater besser Griechisch als Deutsch und die Mutter besser Deutsch als Griechisch spricht. Wenn der Vater dabei ist, spricht die Tochter Griechisch, wenn er nicht dabei ist, spricht sie Deutsch. Sie liest Bücher auf Deutsch und schaut im Internet griechische Filme.

Griechisch ist für diese Jugendliche keine Fremdsprache, die sie von Grund auf lernen muss. Wenn an ihrer Schule ausnahmsweise Griechisch als Fremdsprache angeboten wird und sie teilnimmt, wird sie deshalb möglichweise als Störfaktor wahrgenommen[9]. Wenn Griechisch nicht als Fremdsprache angeboten wird, muss sie eine weitere Sprache wie Französisch oder Spanisch erlernen, um Abitur machen zu können. Ihr Griechisch kann sie allenfalls zusätzlich im Herkunftssprachenunterricht weiterentwickeln.

Ein Griechischunterricht, der ihren Kenntnissen und Bedürfnissen angemessen ist, müsste anstelle einer Fremdsprache erteilt werden und ihre in der Familie erworbenen Sprachkompetenzen einbinden und weiterentwickeln.

Beispiel 2: Im späten Grundschulalter nach Deutschland zugewandert

Als zweites Beispiel stellen wir uns einen Jugendlichen in der siebten Klasse eines Gymnasiums vor, der mit der syrischen Variante von Arabisch aufgewachsen ist und seit der 4. Klasse eine deutsche Regelschule besucht. Seit der Grundschule lernt er neben Deutsch auch Englisch als erste Fremdsprache. In seinem Gymnasium muss er in der 7. Klasse mit Französisch oder Latein als zweiter Fremdsprache beginnen. Faktisch muss der Schüler also drei neue Sprachen lernen, während er zugleich alle Sachfächer in seiner neuen Sprache Deutsch zu bewältigen hat – eine Aufgabe, die uns Lehrer*innen im Projekt TraMiS als immense Belastung beschrieben haben.

Dabei könnte er besser Deutsch lernen, wenn er seine Erstsprache Arabisch mündlich und schriftlich weiterentwickeln dürfte, statt Französisch zu lernen. Beim Erlernen neuer Sprachen wird an das bereits vorhandene Sprachenverständnis angeknüpft.[10] Mit Lern- und Prüfungsmöglichkeiten in Arabisch, Deutsch und Englisch hätte er eine faire Chance, seine Potentiale zu entfalten und das Abitur zu bestehen.

Beispiel 3: Als Jugendlicher zugewandert

Wer erst als Jugendlicher nach Deutschland gekommen ist, kann gar nicht am regulären Fremdsprachenunterricht in Deutschland teilgenommen haben. Für solche Fälle ist vorgesehen, dass Kenntnisse in einer anderen Sprache durch eine Sprachprüfung nachgewiesen werden können. Voraussetzung ist jedoch, dass diese Möglichkeit am Schulstandort angeboten wird. Die Details sind wieder je nach Bundesland unterschiedlich ausgestaltet.[11]

Bei einem Schulbesuch im Rahmen der TraMiS-Studie haben wir einen jungen Mann mit vietnamesischer Erstsprache getroffen, der erst seit wenigen Jahren in Deutschland war.[12] Er besuchte zum Zeitpunkt unseres Gesprächs die Vorbereitungsklasse eines Gymnasiums und hatte gerade begonnen, Spanisch zu lernen. Er hätte stattdessen gern seine Vietnamesischkenntnisse nachgewiesen, hatte aber dafür keine Prüfungsmöglichkeit erhalten. So war er gezwungen, eine weitere Fremdsprache zu lernen. Auch in diesem Beispiel muss ein Schüler zu drei Sprachen noch eine vierte dazulernen, während er sich in einer ohnehin schwierigen Lernsituation auf das Abitur in Deutsch vorbereitet.

Für ihn wäre eine Anerkennung seiner Kenntnisse in Vietnamesisch auf der Basis bisheriger Zeugnisse oder einer Prüfung angemessen gewesen, damit er sich ohne weitere Hürden, die durch das Erlernen einer zusätzlichen Sprache entstehen, auf das Abitur konzentrieren und vorbereiten kann.

Eher Regelfall als Ausnahme

Wieviele Schüler*innen in Deutschland mit mehr als einer Sprache aufwachsen, ist nicht bekannt. Es wird seit längerem angenommen, dass es sich um einen hohen und wachsenden Anteil handelt.[13] Für statistische Zwecke werden meist Eltern gefragt, ob in der Familie vorwiegend Deutsch oder eine andere Sprache gesprochen wird. Dabei wurde für 2018 ermittelt, dass rund 21 Prozent der Kita-Kinder zwischen 3 und 6 Jahren vorwiegend eine andere Sprache als Deutsch in der Familie sprechen, mit großen Unterschieden zwischen den Bundesländern von 5 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern bis 38 Prozent in Bremen.[14] Auch in Haushalten, in denen vorwiegend Deutsch gesprochen wird, kann durchaus mehr als eine Sprache gesprochen werden, so dass der tatsächliche Anteil der mehrsprachig aufwachsenden Kinder deutlich höher sein dürfte.

Kritik und Änderungsvorschläge

Dass sich Schulen in Deutschland nicht adäquat auf mehrsprachige Schüler und Schülerinnen einstellen, wird in Fachdiskussionen schon seit langem kritisiert.[15] In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion liegt der Schwerpunkt auf migrationsbedingter Mehrsprachigkeit ohne Bezug zum schulischen Fremdsprachenlernen.[16] In Diskussionen um Sprachenpolitik und Fremdsprachendidaktik wird ebenfalls seit langem die Frage diskutiert, wie das Lernen mehrerer Sprachen funktioniert und durch die Schule am besten unterstützt werden kann, auch unter Berücksichtigung von migrationsbedingt präsenten Sprachen.[17]

Die ungleiche schulische Berücksichtigung von Sprachen wird als „Zwei-Klassen-Mehrsprachigkeit“ mit Elitemehrsprachigkeit (Fremdsprachen) und Armutsmehrsprachigkeit (Herkunftssprachen) bezeichnet.[18] Selten werden migrationsbedingte Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen im selben Kontext diskutiert. Wenn das der Fall ist, wird vor allem die Aufwertung einzelner viel gesprochener Sprachen der Zuwanderung gefordert, z.B. durch mehr bilinguale Modelle und die Anerkennung als moderne Fremdsprachen.[19] Über die Idee der Aufwertung einzelner Sprachen hinaus zielt das Konzept des Sprachenportfolios, das vom Europarat empfohlen wird. [20] Dabei sollen – in Ergänzung zu Zeugnissen – die gesamten Sprachenkenntnisse einer Person dokumentiert werden. Meines Wissens gibt es aber derzeit keine konkreten Vorschläge, wie die schulische Situation nicht nur punktuell durch zusätzliche Angebote, sondern grundsätzlich verändert werden kann.

Rechtsansprüche als Veränderungsmotor

Der im Folgenden skizzierte Vorschlag geht von einer prinzipiellen Gleichstellung aller Sprachen aus. Als interdisziplinär ausgerichtete Sozialwissenschaftlerin mit Schwerpunkten im Bereich Migration und Bildung habe ich mich in der Vergangenheit mit Rechtsansprüchen und ihrer Realisierung in anderen Themenbereichen auseinandergesetzt.[21] Im Folgenden wird ein Vorschlag skizziert, durch einen erweiterten Rechtsanspruch auf Sprachenprüfungen eine Veränderung der Bildungssituation vor allem von mehrsprachig Aufgewachsenen zu bewirken. Rechtsansprüche können als Veränderungsmotor tatsächlich zu Veränderungen führen, wie im Bildungsbereich z.B. bei Inklusion oder der Kita-Betreuung deutlich geworden ist.

Grundidee: Drei Sprachen sind genug fürs Abitur

Die Grundidee besteht darin, dass für den ersten Schulabschluss Kompetenzen in zwei Sprachen und für das Abitur in drei Sprachen ausreichen sollen. Damit dies gilt, sollen alle Sprachen, die zu bestimmende Mindestkriterien erfüllen, für Schulabschlüsse anerkannt und geprüft werden – zumindest auf dem Niveau B1 im Europäischen Referenzrahmen für Sprachen.[22] Das ist das Niveau, an dem sich die Bildungsstandards für die zweite Fremdsprache (Englisch und Französisch) orientieren und die sich auf andere Sprachen übertragen lassen. Auf die Prüfung der Kompetenzen soll bei rechtzeitiger Anmeldung ein Rechtsanspruch bestehen.

Alle Sprachen? Mindestkriterien für den Rechtsanspruch

Auch wenn die Grundidee in der Gleichstellung aller Sprachen für Schulabschlüsse besteht, muss doch zur Realisierung genauer bestimmt werden, was eine Sprache ist und welche Mindestkriterien erfüllt sein müssen, damit die Bildungsbehörden Prüfungen anbieten müssen, denn Sprachen und sprachliche Varietäten sind vielfältig. Ein Prüfungsanspruch könnte z.B. bei allen Sprachen bestehen, für die es Unterrichtswerke, Grammatiken und Wörterbücher gibt. Für eine Einstiegsphase in einen erweiterten Rechtsanspruch könnte auch zunächst ein engeres Kriterium gewählt werden, z. B. dass bereits von mindestens einer Stelle in Deutschland eine Sprachprüfung angeboten wird, denn dann gibt es Prüfungen und Prüfende für diese Sprache. Ein Rechtsanspruch würde dann dazu führen, dass die Bundesländer eine wechselseitige Unterstützung und angemessene finanzielle Kompensationen für die Prüfungsleistungen vereinbaren. Die Durchführung der Prüfung könnte dann digital unter Einbeziehung von Lehrkräften des Schulstandorts als Aufsicht erfolgen. Die gewählten Kriterien für zu prüfende Sprachen sollten transparent sein und eine Erweiterung des Sprachenspektrums erlauben.

Mehr Prüfungsberechtigte qualifizieren

Wenn es sich um eine Sprache handelt, die bisher nirgendwo in Deutschland geprüft wird oder für die es nicht genug Prüfende gibt, müssten neue Wege gesucht werden. Das Ziel sollte sein, einen Pool an Prüfungsberechtigten zu entwickeln. So könnte z. B. eine Fortbildung zur Prüfungsberechtigung angeboten werden, durch die sich Sprachlehrende in herkunftsbezogenen Bildungsangeboten wie z. B. Samstagsschulen oder zugewanderte Lehrer*innen zu Prüfungsberechtigten weiterbilden können. Wenn im Inland niemand in kurzer Zeit qualifiziert werden kann, könnten auch Lehrkräfte aus dem Ausland, in dem die Sprache in Schulen unterrichtet wird, für Prüfungen geschult und angeworben werden.

Anerkennung von Zeugnissen als Nachweis von Sprachkompetenzen

Außerdem kann gefragt werden, ob wirklich immer eine Prüfung nötig ist. So könnten Schulzeugnisse als Nachweis von Sprachkompetenzen anerkannt werden. Dabei würde es nicht um die Gleichwertigkeit des Unterrichts in einem anderen Land gehen, sondern darum, ob dadurch ein Sprachbeherrschungsniveau von B1 unterstellt werden kann, also dass z.B. Alltagssituationen auf Reisen bewältigt und über Vertrautes kommuniziert werden kann. Es erscheint mir einleuchtend, dass z. B. vier Jahre Vollzeit-Unterricht in französischer Unterrichtssprache mindestens ebenso gute Französischkenntnisse vermitteln wie vier Jahre Fremdsprachenunterricht Französisch in einer deutschen Schule, auch wenn der Schulabschluss selbst wegen anderer Unterrichtsinhalte nicht anerkannt wird.

Schulische Unterstützung: Digital gestützter Mehrsprachenunterricht

Wenn Prüfungen abgenommen werden, sollten Schulen auch darauf vorbereiten. Bei häufig in einer Stadt oder Region gesprochenen Sprache könnte in dieser Region mindestens eine Schule jeder Schulstufe die Sprache auch als Unterrichtsfach anbieten. In diesem Unterricht könnten Schüler*innen die Sprache neu erlernen, aber auch aufbauend auf unterschiedlichen Vorkenntnissen ein bildungssprachliches Register ausbauen. Das legt nahe, mit binnendifferenzierten und jahrgangsübergreifenden Angeboten zu arbeiten.[23] Wenn aber die Sprachen der Schüler*innen zu selten in der Region gesprochen werden oder die Wege zu weit sind, bietet dieser Unterricht in zusätzlichen Sprachen noch keine Lösung.

Ein digital gestützter Mehrsprachenunterricht könnte ein binnendifferenziertes Lernen in allen Sprachen ermöglichen. In diesem Unterricht hätten sprachdidaktisch ausgebildete Lehrpersonen nicht die Funktion, die Sprachen zu vermitteln, auf deren Vermittlung sie sich im Studium vorbereitet haben. Stattdessen würden sie in Kooperation mit externen bilingualen Lehrer*innen individualisierte Lernprogramme entwickeln, die den Stand der Schüler*innen berücksichtigen. Sie sollen die Schüler*innen bei der Bewältigung ihrer Lernprogramme unterstützen und motivieren. Wenn Sprachen irgendwo auf der Welt schon gelehrt werden, sollte es möglich sein, innerhalb kurzer Zeit externe bilinguale Lehrer*innen zu engagieren und Lernmaterial zu finden oder zu entwickeln. Für viele Sprachen gibt es schon E-Learning-Kurse und Tests, die genutzt werden können. Wenn eine Sprache an einer deutschen Universität gelehrt wird, wäre diese als Kooperationspartnerin naheliegend. Selbstverständlich brauchen in einem solchen Kurs alle Schüler*innen als Lernwerkzeug ein Tablet oder einen Laptop. Viele Schulen haben Erfahrungen mit binnendifferenziertem Unterricht, flexiblen Lernbändern und jahrgangsübergreifenden Angeboten, auf die sie aufbauen könnten, und auch die Erfahrungen mit Online-Lehre in der Corona-Krise könnten genutzt werden. Dabei ist wohlgemerkt nicht gemeint, dass Schüler*innen ohne pädagogisch kompetente Unterstützung zuhause lernen sollen, sondern dass sie in einem binnendifferenziert organisierten Klassenraum mit sprachdidaktischer und pädagogischer Unterstützung gemeinsam an einem eigenen Programm lernen, wobei idealerweise auch Peer-Learning möglich ist, wenn es mehr als eine Lernende der Sprache gibt.

Modellprojekte als Einstieg

Vor der Einführung eines Rechtsanspruchs wäre es sinnvoll, wenn einige Schulen in unterschiedlichen Bundesländern Modellprojekte durchführen. Digital gestützter Mehrsprachenunterricht sollte in der Unterstufe, der Mittelstufe und Oberstufe sowie im städtischen und ländlichen Raum erprobt werden. Dabei müsste der Aufwand in Forschung und Schule durch Projektmittel finanziert werden. Die Schulen müssten in Kooperation mit externen Partnern, die sich um Lernmaterialien, externe bilinguale Lehrer*innen und Evaluation kümmern, an ihre Situation angepasste Unterrichtskonzepte entwickeln. Die Länder müssten die Prüfungsmöglichkeit für die teilnehmenden Schüler*innen garantieren. Eine Evaluation sollte mit dem Ziel durchgeführt werden, Möglichkeiten aufzuzeigen und Rahmenbedingungen zu formulieren, damit bei  Einführung eines Rechtsanspruchs Schulen Vorbilder haben, wie sie unterstützen können. Aufbauend auf Modellprojekten ist die vorgeschlagene Reform ein realistischer Weg, um innerhalb weniger Jahre eine bislang in der Bildungspolitik und -administration weithin unbeachtete Form der Benachteiligung im Bildungssystem abzuschaffen.

Positive Effekte

Die Abschaffung der Diskriminierung habe ich hier als zentrales Anliegen vorgebracht. Ich kann mir aber noch eine Reihe weiterer positiver Effekte vorstellen. Mit der Abschaffung der Diskriminierung durch Fremdsprachenanforderungen bei Schulabschlüssen würde eine Hürde für Schulabschlüsse wegfallen, so dass vor allem zugewanderte Schüler*innen in der Folge seltener ohne Abschluss die Schule verlassen und häufiger auch das Abitur erreichen können. Die Möglichkeit zum Ausbau von familiär erworbenen Sprachkenntnissen kann Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, Identitätsarbeit und ihrem Selbstwertgefühl stärken. Die gleichberechtigte Anerkennung von Sprachen bei schulischen Abschlüssen könnte darüber hinaus in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu einer höheren Sichtbarkeit und Akzeptanz von Mehrsprachigkeit und damit verbundenen transnationalen Orientierungen und Identitäten führen.

Langfristig sind positive Effekte für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu vermuten. Unternehmen könnten Menschen mit diverseren Sprachenkenntnissen beschäftigen und so ihre Wirtschaftsbeziehungen besser diversifizieren und zugleich auch auf Mitarbeitende zurückgreifen, die in der Schule mehr Zeit hatten, um sich z.B. auf Deutsch und Mathematik zu konzentrieren.

Offene Fragen

Mir ist bewusst, dass in diesem Debattenbeitrag nicht alle Implikationen des Vorschlags diskutiert werden. So wird z.B. nicht auf die besondere Bedeutung des Englischen als internationale Verkehrssprache eingegangen, die in anderen Sprachen mehrsprachig Aufgewachsenen nicht vorenthalten werden sollte. Auch wie die dominante Unterrichtssprache Deutsch bei Prüfungen behandelt wird, müsste in einer Perspektive der Gleichbehandlung aller Sprachen neu bedacht werden. Derzeit wird, vereinfacht gesprochen, immer zugleich die sprachliche und die fachliche Kompetenz abgefragt. Wer z.B. im Abitur eine exzellente Interpretation eines Romans abliefert, erhält Notenabzüge für Kommasetzungs-, Rechtsschreib- und Grammatikfehler, auch wenn sie das Textverständnis nicht beeinträchtigen. Langfristig könnten die Begriffe Fremd- und Herkunftssprachenunterricht verschwinden, weil in allen Sprachen differenzierter Unterricht angeboten wird, der Vorerfahrungen außerhalb der Schule berücksichtigt.

Für die Kommentierung dieses Beitrags im neu geschaffenen Debattenformat des Rats für Migration erhoffe ich mir, dass die Vorschläge und offen gebliebene Fragen kritisch diskutiert werden. Dadurch kann hoffentlich eine robuste Argumentation entwickelt werden, um die Diskriminierung von mehrsprachig Aufgewachsenen durch die Fremdsprachenanforderungen bei Schulabschlüssen abzuschaffen.


Debatten

Dr. Yazgül Șimșek

Dr. Katrin Huxel

Prof. Dr. Galina Putjata

Dr. Till Woerfel, Dr. Almut Küppers & Prof. Dr. Christoph Schroeder

Dr. Gabriele Buchholtz

Elina Stock

 


Fußnoten

[1] tramis.de

[2] Hériard (2019).

[3] KMK (2013, 7).

[4] Fürstenau und Gomolla (2011a, 31).

[5] Mediendienst Integration (2019). Selbstverständlich gibt es – wie immer im Bereich der schulischen Bildung – im Detail Unterschiede zwischen den Bundesländern. So kann z.B. in Nordrhein-Westfalen eine Prüfung in der Herkunftssprache eine schlechte Englischnote ausgleichen NRW (2019).

[6] Brehmer und Mehlhorn (2018, 72).

[7] Küppers und Schröder (2017, 60), s.a. Stratmann (2019, 43).

[8] Lüdi (1996, 234).

[9] Brehmer und Mehlhorn (2018, 78).

[10] García und Kleifgen (2018, 57).

[11] Siehe z.B. für NRW und Baden-Württemberg https://www.brd.nrw.de/schule/schulrecht_schulverwaltung/Sprachpruefung_Feststellungspruefung.html; https://www.schulrecht-rlp.de/index.php/Ordnung_f%C3%BCr_die_Feststellungspr%C3%BCfung_(Sprachpr%C3%BCfung); https://rp.baden-wuerttemberg.de/rpt/Abt7/Schulformulare/Feststellungspr%C3%BCfung%202020%20-%20Hinweise%20und%20Empfehlungen.pdf

[12] Lukes und Vogel (2019).

[13] Ritterfeld et al. (2013, 168).

[14] FDZ der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder sowie statistisches Bundesamt, Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen und in öffentlich geförderter Kindertagespflege 2018; berechnet vom LG Empirische Bildungsforschung der FernUniversität in Hagen, 2019. https://www.laendermonitor.de/

[15] Gogolin (1994).

[16] Fürstenau und Gomolla (2011b).

[17] Christ et al. (1980).

[18] Krumm (2013).

[19] Küppers und Schröder (2017, 69).

[20] Council of Europe https://www.coe.int/en/web/portfolio/introduction, 2.5.2020

[21] z.B. (Vogel und Cyrus 2006; Funck, Karakaşoğlu und Vogel (2015).

[22] Siehe z.B. die Darstellung beim Goetheinstitut https://www.goethe.de/Z/50/commeuro/303.htm

[23] s.a. die Überlegungen von Küppers und Schröder (2017, 65) für bilingualen Türkischunterricht als transnationales Angebot

Literatur

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